Cycling Anden 2019
1 — Cordillera Blanca

06.08.2019, Flughafen Zurich

Am Flughafen Zürich warte ich mit hunderten anderen Reisenden darauf, dass der Flugbetrieb nach dem heftigen Gewitter, welches seit einer Stunde den Start von vierzig Flugzeugen verzögert, wieder aufgenommen wird. Obwohl ich seit mehr als einem Jahr diese ersehnte Fahrradreise durch die Andern plane, wurde ich in den letzten Tagen das Gefühl nicht los, Hals über Kopf und völlig unvorbereitet zu verreisen. Erst seit ich eine 20.6 kg schwere Kartonkiste mit meinem Fahrrad und einen 19.8 kg schweren Jutensack mit dem restlichen Gepäck eingecheckt und die Passkontrolle passiert habe, erfüllt mich diese befreiende Lethargie, die mich jetzt erstaunlich gelassen hinnehmen lässt, dass ich in Paris den Anschlussflug nach Lima verpassen werde und damit die komplizierte Geschichte von einem beginnt, der aus dem geplanten System gefallen ist. Ich habe meinen Teil zum gelingen dieser Reise getan, jetzt geht es darum mit dem zurecht zu kommen was ist. Seit heute ist mein Vorrat an Zeit enorm. Ich gebe mich dem Rauschen des Flughafens hin.

07.08.2019, Im Flugzeug

Im abgedunkelten Passagierraum einer Boeing 777 auf dem Flug von Paris nach Lima übertrage ich eine Liste von Restaurants in Trujillo aus dem Reiseführer in eine digitale Karte. Hin und wieder hebe ich meinen Blick und betrachte die Bilder welche die Landscape Camera auf den kleinen Monitor in der Rückenlehne des Vordersitzes überträgt. Gerade wegen der miserablen Qualität dieses Bildschirms erzeugen die kleinen Wolken, die unaufhörlich und in Zeitlupe durchs Bild fallen, einen Film von faszinierender Schönheit. Während ich ihn betrachte beschäftigt mich die Frage ob es angemessen wäre meinem Sitznachbarn ein Papiertaschentuch anzubieten. Quasi in Echtzeit musste ich in den letzten Stunden miterleben wie sich der junge Japaner erkältet und sich jetzt alle paar Sekunden die Nase hochzieht.

07.08.2019

“Landscape Camera“

08.08.2019

Huanchaco, Peru

08.08.2019

Huanchaco, Peru

08.08.2019

Huanchaco, Peru

14.08.2019, Chao, Peru

Ich sitze auf einer Bank im zentralen Platz von Chao, der – im Vergleich zum Rest des von seiner lärmig-dreckigen Lebensader Panamericana geprägten Ortes – erstaunlich herausgeputzt wirkt. Ich schaue einer Gruppe Jugendlicher zu, die sich vor den Gittertoren der Banco de Nación aufgestellt haben um eine Abfolge von Tanzschritten zu peruanischem Rap zu üben. Diese übersteuerte, den ganzen Platz beschallende Musik ist es, die mich her gelockt hat.
In meinem Zimmer im Hotel Marbia, in welchem ich seit drei Tagen liege um mich von einer heftigen Durchfallerkrankung zu erholen, habe ich mich gefragt wer Abend für Abend den ganzen Platz, immer und immer wieder, mit den ersten 12 Takten des gleichen Musikstücks beschallt und begreife jetzt, dass die Gruppe mit der Entwicklung der Choreografie noch nicht weiter gekommen ist.

13.08.2019

Panamericana in Chao, Peru

25.08.2019

Schlafplatz im Mondschein. Im Wüstenstreifen zwischen der Küste und den Bergen. Kein Mensch, kein Tier, kein Rascheln und kein Rauschen. Wenn sich nachts der Wind legt herrscht hier Totenstille. Bleibt nur das Rauschen des Blutes im eigenen Kopf.

16.08.2019

Victor überlässt mir seine Baustelle für die Nacht. Chuquicara, Peru

17.08.2019

Entlang dem Rio Santa durch die Cordillera Negra, Peru

19.08.2019

Caraz, Peru

20.08.2019, Caraz, Peru

Auf der Veranda im Innenhof des Hostal Oasis in Caraz sitze ich beim Desayuno Americano an der Sonne und lasse meinen Blick pendeln. Zwischen den Kolibris, die sich Nektar aus den Blüten der Farolita Chino holen, dem armen Papagei mit den gestutzten Flügeln, der mich mit einem deutlichen que tal wiederholt fragt wie es mir geht und natürlich dem Nevado Huandoy, einem der zahlreichen Sechstausender, der Cordillera Blanca, der jetzt in festlichstem Weiss hinter den braunen Hügelketten aufleuchtet.
Dieses perfekte morgendliche Setting, die geschaffte, beschwerliche Anreise zu diesem idyllischen Ort und die Erwartung der bevorstehenden Tage, die ich zwischen diesen Bergen verbringen werde, verhelfen mir zu einem Hochgefühl, welches mich die aus der Küche schallende peruanische «Schlager»-Musik nicht mehr als unangenehm überdreht fröhlich sondern als durchaus passend empfinden lässt.

23.08.2019

Plaza de Arma, Caraz, Peru

23.08.2019

Plaza de Arma, Caraz, Peru

23.08.2019

Plaza de Arma, Caraz, Peru

21.08.2019, Chicaruapunta, Peru

Im Aufstieg zur 4310 Meter hohen Chicaruapunta habe ich mich in einer der dutzenden Haarnadelkurven an den Abhang gesetzt und blicke hinunter auf einen ebenen Flecken Wiese auf dem eine Gruppe von Bauern die Weizenernte auf einer weissen Plane ausgebreitet hat um sie von vier, im Kreis rennenden, Pferden dreschen zu lassen.
Der Wind trägt die harten Rufe mit denen die Männer die Pferde antreiben und sogar das Rascheln der trampelnden Hufe im trockenen Stroh zu mir herauf. Gerade als ich mich im Gedanken verliere, wie sehr ich in diesem Aufstieg nicht nur durch die Klimazonen sondern ebenso durch die Zeit reise, mich mühelos bereits mehrere hundert Jahre zurück wähne, schnaubt der erste von fünf schweren Lastwagen, über deren kommen mich der Lenker eines vorausfahrenden Pickups gewarnt hatte, in die Kurve. Ich winke, der Fahrer strahlt, winkt euphorisch zurück, hupt und lässt mich in einer alles vernebelnden Staubwolke in der Gegenwart zurück.

21.08.2019

Weizen dreschen. Oberhalb von Huta, Peru

21.08.2019

Fünf schwere rote, Peru

22.08.2019

Die Nevados Huandoy und Huascaran im Mondschein. Übernachtung im Aufstieg zum Chicarhuapunta, Cordillera Negra, Peru

22.08.2019

Aklimatisierung in der Cordillera Negra mit Blick auf deren grosse Schwester Blanca, Winchus, Peru

26.08.2019

Aufstieg zum Artesonraju Basecamp, Cordillera Blanca, Peru

26.08.2019, Artesonraju Basecamp, Peru

Ich kauere im Windschatten eines der Steinmäuerchen hinter denen die Bergsteiger ihre Zelte auf 4800 Metern stehen lassen wenn sie zur Besteigung des 6025 Meter hohen Artesonraju aufbrechen und bestaune die mich umgebende Arena aus Schnee, Eis, Fels und Geröll. Alle paar Minuten erinnert mich das dumpfe Grollen von irgendwo zu Tal stürzendem Material daran, dass die Arbeit an diesem gewaltigen Werk der Erosion unvollendet bleibt, dass Wasser, Eis und Wind fortwährend an dieser, acht Millionen Jahre alt geschätzten Erhebung nagen, um sie nach und nach abzutragen und via Río Santa in den Pacific zu transportieren.
Jetzt ist es vier Uhr geworden. Zu lange habe ich die herumschleichenden Wolken beobachtet, versucht, aus den ständig wechselnden sichtbaren Ausschnitten das Ganze zusammenzufügen und gehofft, der Himmel würde gegen Abend aufklaren. Jetzt wird es knapp mein Zelt, unten an der Laguna Parón, noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen.

26.08.2019

Artesonraju Basecamp, 4750 m.ü.M., Cordillera Blanca, Peru

26.08.2019

Artesonraju Basecamp, 4750 m.ü.M., Cordillera Blanca, Peru

27.08.2019

La Píramid und Laguna Parón, 4200 m.ü.M., Cordillera Blanca, Peru

29.08.2019

Unterwegs zur Umrundung des Nevado Huascarán, Pueblo Shilla, Cordillera Blanca, Peru

29.08.2019

Unterwegs zur Umrundung des Nevado Huascarán, Quebrada Ulta, 3950 m.ü.M., Cordillera Blanca, Peru

29.08.2019, Quebrada Ulta, Peru

Von Geräuschen aufgeschreckt stehe ich nachts um 1 Uhr in Unterhose aber mit Daunenjacke vor dem Zelt und leuchte mit der Stirnlampe ins Dunkel. Wohin ich das Licht auch richte, leuchtet ein Augenpaar zurück. Ich hatte es vermutet, die neugierigen Rinder, die hier in der Ebene auf 4000 Metern frei weiden, interessieren sich für jede Veränderung in ihrem Weidegebiet und haben sich um mein Nachlager versammelt. In der Angst eines der Tiere könnte über eine Zeltschnur stolpern und sich oder mich dabei verletzen, vertreibe ich die jungen Kühe mit den Rufen die ich den Männern im Tal beim Antreiben ihrer Ochsen zum Pflügen abgehört habe.
Noch einmal schaue ich nun den Hang hoch zu den 27 Haarnadelkuven die mich morgen früh zum 4890 Meter hohen Pass Punta Olímpica bringen sollen, um die Cordillera Blanca von West nach Ost zu durchqueren. Wie Movinglights auf einer Konzertbühne schwenken die Scheinwerfer der nachts fahrenden Fahrzeuge durchs Dunkel den steilen Hang hinauf.

30.08.2019

Schweizerische Verhältnisse mit makellosem Asphalt im Aufstieg zur Punta Olímpica, Cordillera Blanca, Peru

30.08.2019

Touristengruppe aus Lima, bei der Tunneleinfahrt Punta Olímpica, 4736 m.ü.M., Cordillera Blanca, Peru

30.08.2019

Seit der Fertigstellung des Tunnels wird die alte Passstrasse zur Punta Olímpica nicht mehr unterhalten. Cordillera Blanca, Peru

30.08.2019

Punta Olímpica, 4890 m.ü.M., Cordillera Blanca, Peru

30.08.2019

2500 Höhenmeter Abfahrt auf 40 km von der Punta Olímpica nach Chacas stehen bevor. Cordillera Blanca, Peru

01.09.2019, Acochacas, Peru

Ich hocke auf einem Stein am Strassenrand über der Ortschaft Acochacas. Am tiefsten Punkt auf der Umrundungstour des Nevado Huascarán warte ich auf die Motivation den nächsten Anstieg auf einer ruppigen Schotterstrasse in Angriff zu nehmen, als zwei Frauen an mich herantreten um mir ein Faltblatt mit einer wichtigen Informationen zu überreichen. Das Titelbild zeigt ein lachendes Paar in reicher Ernte sitzend, dahinter ein Elch und ein Haus in idyllischer Landschaft. Darüber der Titel Pronto acabará el sufrimiento.
Zu diesem Zeitpunkt weiss ich noch nicht, dass ich gestern Abend in Chacas in der Lotterie um die Auswahl eines geeigneten Restaurants wieder verloren habe und im Aufstieg zum Paso Pupash tatsächlich leiden werde. Aber ja, die testigos de Jehova werden recht behalten, auch dieses Leiden wird ein Ende haben.

01.09.2019

Schlafplatz oberhalb Wecroncocha, Peru

03.09.2019

Portichuelo de Llanganuco, 4710 m.ü.M., Cordillera Blanca, Peru

03.09.2019

Portichuelo de Llanganuco, Cordillera Blanca, Peru

03.09.2019

Erst nachts ist der Himmel klar, die Kamera sieht im Dunkel besser als der Mensch. Die drei Gipfel des Huandoy, Cordillera Blanca, Peru

03.09.2019

Spektakulärer Übernachtungsplatz auf 4650 m.ü.M. mit nächtlichem Blick auf den höchsten Berg Perus, Huascarán Sur, 6768 m. Cordillera Blanca, Peru

03.09.2019

Ich brauche 4,5 Stunden für 45 km Abfahrt vom Portichuelo de Llanganuco hinunter nach Yanama. Cordillera Blanca, Peru

04.09.2019

Abfahrt nach Yanama. Cordillera Blanca, Peru

04.09.2019

Laguna Chinan Cocha, Cordillera Blanca, Peru

06.09.2019

Weiterbildung in Grafikdesign, Huaraz, Peru

06.09.2019

Ankunft in Huaraz, Peru

06.09.2019

Ankunft in Huaraz, Peru

07.09.2019, Huaraz, Peru

Morgens um 5:30 Uhr liege ich im Hostal Los Cabañas in Huaraz wach im Bett und lausche. In der grössten und fortschrittlichsten Stadt der Region, mit immerhin knapp hundertdreissigtausend Einwohnern das Zentrum für Verwaltung und Tourismus, haben mich, lange bevor die Dämmerung und der Verkehr einsetzen, die krähenden Hähne geweckt. Vielleicht werden Hühner hier auf den Dächern gehalten aus denen die Armierungseisen für den Bau von weiteren Stockwerken herausragen und die sich, solange für den Weiterbau kein Geld vorhanden ist, hervorragend zum spannen von Wäscheleinen eignen.
1970 wurde Huaraz von einem Erdbeben komplett zerstört. Das goldene Tor der Kirche blendet den Besucher, betreten kann er sie noch nicht, der Wiederaufbau des Gebäudes ist auch 50 Jahre nach der Katastrophe nicht abgeschlossen.

06.09.2019

“Arquitectura Moderna“, Huaraz, Peru

06.09.2019

“Arquitectura Moderna“, Huaraz, Peru

09.09.2019

Ein Blick zurück auf den Nevado Huascaran, Huaraz, Peru